Ich habe mich, wie hoffentlich an meinen Freudentränen erkennbar war, unbändig über die positive Resonanz auf meinen Text „Gewässer im Ziplock“ gefreut, den ich bei den 45. Tagen der deutschsprachigen Literatur vorgetragen habe und für den ich den Deutschlandfunkpreis bekommen habe. Dennoch bleibt ein Nachgeschmack, den ich gerne ausformulieren möchte.
Ich habe viele nichtjüdische Freund:innen, die im vergangenen Jahr begeistert die Serie Unorthodox (basierend auf den gleichnamigen Memoiren von Deborah Feldman, die einer ultra-orthodoxen Sekte in New York entkommen ist) geschaut haben. Auch ich fand sie unterhaltsam. Meine Freund:innen allerdings fanden sie nicht nur spannend, sondern auch lehrreich. „Schon krass, Religion ist einfach schlimm“, konnte ich oft hören, und Sätze wie: „Das ist aber ganz schön viel Alufolie“. Ich habe dann erklärt, dass man nur für Pessach, für acht Tage im Jahr, wenn man es genau nimmt mit den Regeln, die Küche mit Alufolie abklebt. Trotzdem habe ich gemerkt, wie fragend und skeptisch die Blicke meiner Freund:innen waren. Wie oft gesagt wurde, Religion sei nun mal unterdrückend und schlimm. Wie oft ich versucht habe, zu erklären, dass in der Serie eine extreme Form des Judentums portraitiert wurde, nämlich die Ultra-Orthodoxie. „Zu konsumieren mit einem grain of salt“,sagte ich, wenn ich nach meiner Meinung gefragt wurde, und ließ Matzah-Klößchen in die Suppe fallen.
In der Jurydiskussion zu meinem Text, in dem es um einen Kantor und seine Tochter geht, hat der Bachmannpreis-Juror Klaus Kastberger die aus seiner Sicht fehlende Reflexion des Ausbruchs und der Zwänge des ultra-orthodoxen Judentums bemängelt: „Der Blick auf jüdisches Leben, auf orthodoxes jüdisches Leben, ist ein Thema, das wirklich in den letzten Jahren aufgekommen ist, es auch so weit gebracht hat, dass es über Fernsehserien vermittelt wird – Unorthodox, Shtisel – also es gibt offensichtlich ein neues Faszinosum, die orthodoxen Welten vorgeführt zu bekommen. […] Mir kommt vor, in diesen Serien sind die Brüche mit diesen Welten vielleicht genauer und radikaler markiert, als es hier der Fall ist.“ – und später: „Und was mir fehlt in dem Text: Orthodoxie ist ja auch ein Kerkersystem. Und das Aufbegehren, das ja auch in der Figur Rita ist, das ist mir noch zu wenig.“
Hierbei ist zunächst wichtig, präzise zu sein. Denn Orthodoxie und Ultra-Orthodoxie sind im Judentum zwei völlig verschiedene Strömungen, die wiederum in verschiedene Gruppierungen einzuteilen sind. Ultra-orthodoxe Juden und Jüdinnen leben so streng nach den Regeln der Halacha (und ihren Interpretationen davon), wie es ihnen das menschliche Leben erlaubt. Infolge dieser Interpretation werden beispielsweise Frauen massiv unterdrückt; Männer sind nicht berufstätig, sondern widmen ihr Leben dem Studium der Torah.
Orthodoxe Juden und Jüdinnen halten sich ebenso rituell an die Bräuche und Gesetze der Halacha, zum Beispiel an die Regeln der Speisegesetze (Kaschrut) oder des Schabbats. Nicht alle orthodoxen Juden und Jüdinnen tragen Schläfenlocken, Zizit und Schtreimel oder Hut. Dann wiederum gibt es konservative Juden und Jüdinnen, die nicht streng orthodox leben, aber beispielsweise in der Synagoge in getrennten Reihen sitzen.
Und dann gibt es noch liberale Strömungen, in denen es ähnlich bunt zugeht: einige liberale Juden und Jüdinnen tragen Kippa, essen aber freudig Garnelen, andere halten sich streng an die Regeln der Halacha und setzen sich für die Gleichstellung der Frau im religiösen Kontext ein, für gemischte Sitzplätze und Frauen in Rabbinatspositionen (wie etwa in der Gemeinde in der Oranienburger Straße). Ich habe in meinem Text nicht expliziert, welcher Strömung der Kantor angehört. Dass er seine fünfzehnjährige Tochter aber auf eine nichtjüdische Schule schickt und Party machen lässt, spricht wohl gegen eine Zugehörigkeit zum Kerkersystem der Ultra-Orthodoxie, und für eine liberale Weltsicht – und deswegen sollte es auch gar keine Brüche mit der jüdischen Welt geben, denn niemand muss ihr entkommen.
Ich will hier keineswegs in Reaktion auf Literaturkritik irgendwelche empfindlichen Antisemitismus-Vorwürfe herbeikonstruieren. Vielmehr denke ich, dass Herr Kastberger eine gängige Wahrnehmung gläubiger Juden und Jüdinnen durch christianisierte Gesellschaften verbalisiert hat, die durch die massenmediale Thematisierung ultra-orthodoxen Judentums entstanden ist. Das Netflix-Judentum handelt nun mal von Extremen; es ist gleichzeitig auch der einzige Ort, an dem jüdische Bräuche einer großen Menge an Menschen gezeigt werden. Die Interpretation, der Text handle von einem sich anbahnenden Ausbruch aus den Zwängen der Religion ist symptomatisch dafür, dass sich ein vielsagendes Unbehagen gegenüber der Observanz jüdischer Riten breitgemacht hat. Denn Geschichten über liberale Juden und Jüdinnen, die an Schabbat ihr Handy ausmachen, aber ihre Frauen nicht unterdrücken und vielleicht auch gerne mal raven gehen, Juden und Jüdinnen, wie man sie in Berlin in den jungen Gemeinden in Bezirken wie Kreuzberg und Mitte findet, die gibt es zwar. Sie werden aber nicht zu popkulturellen Netflix-Phänomenen.
Was sich abgezeichnet hat im Diskurs über meinen Text, ist, dass ich statt dem grain of salt, zu dem ich nichtjüdischen Freund:innen beim Schauen von Unorthodox geraten habe, gerade gerne das gesamte Salz des Mittelmeers verschreiben würde. Denn: was hier passiert ist, ist genau jene Interpretation sämtlicher jüdischer Riten als Ausdruck extremistischen Glaubens, vor der ich gewarnt habe. Eine, die jüdisches Leben mit einem Kerkersystem gleichsetzt, aus dem man sich zu befreien hat. Das als intensiv gezeichnete Bild des Glaubens meines Protagonisten wurde automatisch als Bildnis von Radikalismus interpretiert. Diese Erfahrung ist mir vertraut. Eine häufige Frage, wenn ich erzähle, dass ich Jüdin bin, ist, ob ich „aber auch gläubig“ sei. In unserer christianisierten Gemeinschaft, die so sehr vom Christlichen als „Normalität“ ausgeht, ist es radikal, sich dem nicht unterzuordnen, sondern andere kulturelle und religiöse Riten zu haben. Diese werden dann schnell umfassend und kategorisch als extrem wahrgenommen – so auch in meinem Text. Diese Wahrnehmung meiner Protagonisten von Seiten der Leserschaft (auch die dpa meldete eine orthodoxe Familiengeschichte) irritiert mich. Wir nehmen ja auch die sonntags geschlossenen Supermärkte in Deutschland nicht als Symptom eines Lebens in einer fundamentalistisch-christlichen Dystopie à la Handmaid’s Tale wahr.
Es geht in meinem Text nicht um den Knast, den fundamentalistischer Glaube darstellt. Dass der Kantor sein Handy am Schabbat nicht bedient, ist völlig selbstverständlich, denn er ist gläubiger Jude. Und würde er an Schabbat telefonieren, könnte er trotzdem gläubiger Jude sein. Eine meiner Freundinnen ist angehende Rabbinerin und in einer Beziehung mit einer Frau. Sie würde am Schabbat ihr Telefon wahrscheinlich nur in Ausnahmefällen anmachen, und doch setzt sie sich leidenschaftlich für progressives Denken in jüdischen Kreisen ein. Mein Großvater hat in seinen Lebzeiten keinen Bissen Schweinefleisch gegessen, und dennoch war er weltweit renommierter Wissenschaftler. Denn der Verstand und die tradierten Bräuche des Judentums: Sie dürfen und können sich ergänzen. Wir Un-Ultra-Orthodoxen, wir sind nicht gefangen in den Klauen unserer Religion, wenn wir uns in ein Gebet vertiefen. Wir können progressiv und gläubig zugleich sein. Wir können komplex und verloren sein, wir können an Schabbat den Lichtschalter nicht betätigen und für die Ehe für Alle sein, oder auch umgekehrt. Wir können uns wohlfühlen in unserem Glauben. Es gibt uns, wir sind hier.
Um an einem Schabbat einen Text im Fernsehen diskutieren lassen, in dem die Sexualität einer Fünfzehnjährigen thematisiert wird und vor laufender Kamera im Badeanzug über den Kotti zu laufen, musste ich mich nicht aus den Zwängen meiner Religion befreien. Ich fühle mich nicht eingesperrt, sondern außerordentlich frei. Ich darf die Geschichte von Margarita und ihrem Vater erzählen, zwei jüdischen Menschen, die trotzdem und selbstverständlich zugleich in Deutschland leben. Auch die Jurorin, die mich für diesen Text nominiert hat, hat in ihrer treffenden, berührenden Laudatio nochmal expliziert, dass es sich darin um eine liberale jüdische Familiengeschichte handelt. Ich bin glücklich. Denn, um auf Insa Wilkes Eröffnungsrede zurückzukommen: Das einzige, das radikal ist an meiner Geschichte, ist die Vorstellung, sie beim Bachmannwettbewerb vorzutragen.
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